Kennst du das?

Beim Abendessen will er statt Gemüsesuppe Joghurt. Und als der Joghurt auf dem Tisch steht, will er Nachtisch, ohne auch nur einen Löffel davon gegessen zu haben.

Und auf einmal sind da diese Zweifel. Ob deine Art des Umgangs eigentlich gut ist. Ob du es wirklich richtig machst. Und ob es überhaupt eine gute Idee ist, dem Kind so viel Raum zu geben. Oder ob es nicht doch langsam an der Zeit wäre, „die alte Schule“ auszupacken; Ein Machtwort. Konsequenzen. Sanktionen?

Ich kenne das ziemlich gut! Gefühlt war ich in den letzten 7 Jahren 100 Mal an diesem Punkt.

Und das überrascht nicht.

Denn dieses Gedankengut, dass Kinder manipulative Tyrannen sind, ist unser kulturelles Erbe.

Das Bild des manipulativen Tyrannen bröckelt aktuell, wenn überhaupt, in der zweiten, maximal in der dritten Elterngeneration. Die meisten unserer Eltern tickten noch ganz anders. Und für unsere Großeltern war „Züchtigung durch Erniedrigung“ noch salontaugliche Pädagogik.

Und selbst wenn wir uns in Momenten der Klarheit und Kraft davon distanzieren, es vielleicht sogar vehement verneinen, so wirken diese Erfahrungen unserer Vorfahren doch in uns.

Aus dem Blick der Epigenetik könnte man sagen, es sitzt im wahrsten Sinne des Wortes in unseren Zellen. Besonders schön dargestellt wird das durch die Studie von Brian Dias und Kerry Ressler (2013):

 In diesem Experiment erhielten Ratten in Verbindung mit einem bestimmten Geruch einen Stromschlag. Die Tiere konnten dem Stromschlag nicht entkommen und reagierten nach einigen Durchgängen mit einem Schreckverhalten, sobald dieser Geruch präsentiert wurde, selbst wenn damit kein Stromschlag mehr einherging.

Spannend ist nun, dass selbst die Nachkommen dieser Ratten immer noch schreckhaft reagierten, sobald dieser Geruch ausgesondert wurde, obwohl sie in Verbindung damit niemals eine negative Erfahrung machten.

Die Forscher untersuchten auch die folgenden Generationen und hielten in ihrer Studie fest, dass die Nachkommen bis in die siebte Generation immer noch aufschreckten, wenn dieser Geruch wahrzunehmen war, ohne vorher jemals irgendeine Erfahrung damit gemacht zu haben.

Natürlich lassen sich diese Ergebnisse nicht eins zu eins auf den Menschen übertragen. Dennoch zeigt uns diese Studie, dass aufgrund der Epigenetik, ein recht junger Forschungszweig, der sich im weitesten Sinne mit der Veränderung unserer Gene aufgrund der Umwelteinflüsse befasst, mitunter Dinge in uns wirken, die sehr viel älter sein können als wir selbst.

Und da wir nur ein, bis zwei Generationen zurückzublicken brauchen, um „Züchtigung durch Erniedrigung“ als gängiges Erziehungskonzept zu finden, ist davon auszugehen, dass eben diese Strömungen auf ihre Art und Weise auch immer noch in uns wirken.

Und das vor allem in Stressmomenten. Denn sobald unser System Stress hat, spart unser Gehirn wo immer es auch geht, Energie. Und das tut es als allererstes im präfrontalen Kortex, der Großhirnrinde, wo bspw. dein angeeignetes Wissen rund die bedürfnisorientierte Erziehung gespeichert ist.

All dein Wissen, all deine guten Ambitionen sind also, wenn Du wirklich gestresst bist, quasi auf Flugmodus. Folglich greift dein System auf jene Muster zurück, die alt bewährt sind und dich mit ihren Strömungen durchaus in ein anderes Jahrhundert zurückziehen können – und es kommen Impulse auf, die dich strafen, drohen und schlagen lassen wollen.

Züchtigung durch Erniedrigung. Diese Sozialisation wirkt in uns. Auch wenn die meisten von uns sie glücklicherweise selbst nicht mehr erfahren mussten – dieses Gedankengut sitzt in unseren Zellen. Und dieses Gedankengut beeinflusst uns. Vor allem in Stresssituationen.

(Aus „hätte, müsste, sollte“ – erscheint im Herbst im Kösel Verlag)

 Die Tatsache, dass wir vor allem in Stressmomenten mit unseren Gedanken und Handlungsimpulsen wieder zurückgezogen werden ins letzte Jahrhundert, ist schlichtweg menschlich. Und wissenschaftlich erklärbar. Denn was sich lange bewährt hat, hält sich eben gut.

Die Tatsache, dass du dich als Mutter oder Vater aufmachst, um mit deiner Familie neue Wege zu gehen, ist eine Revolution. In unseren Breitengraden ein klitzekleiner Trampelpfad in einem dicht bewachsenen Dschungel. Während „Züchtigung durch Erniedrigung“ ein bequemer und gut ausgebauter High-Way ist – der auch noch direkt neben an liegt.

Schelte dich nicht für deine Gedanken. Und lass dich von den Zweifeln nicht verunsichern. Sie sind unser kulturelles Erbe. Und dein neuer Weg eine dringend überfällige Revolution.

Sei nachsichtig mit dir! Denn der Sog des Highways ist stark und der Weg auf dem Trampelpfad mitunter beschwerlich.

Führe dir vor Augen, dass diese Gedanken, diese Zweifel ein Teil unserer Sozialisation sind. – und richte dich bewusst neu aus.

Du bist gut. Dein Kind ist gut. Und gemeinsam seid ihr zauberhaft!